Artikel • Beckenbodendysfunktion

Weniger Scham und mehr Dynamik: Die MRT des Beckenbodens

Das Thema ist mit Scham behaftet und betrifft doch immer mehr Patienten: Die Beckenbodendysfunktion tritt zumeist bei älteren Menschen, zunehmend jedoch auch bei Jüngeren auf.

Die Radiologie schlägt mit der dynamischen MRT eine Brücke zwischen den einzelnen Fachbereichen

Zur Beckenbodendysfunktion zählen die Harn- bzw. Stuhlinkontinenz, der Beckenorganprolaps, die Beckenbodenschwäche sowie Stuhlentleerungsstörungen. Oft haben Betroffene einen langen Leidensweg hinter sich, bevor sie einen Arzt aufsuchen, da das Schamgefühl sehr hoch ist, über die Beschwerden zu sprechen. Zusätzlich können die bestehenden Beschwerden völlig unspezifisch sein und die Diagnose erschweren. Je nach Geschlecht und führendem Symptom werden sowohl Gynäkologen, Urologen, Internisten als auch Proktologen aufgesucht.

Da bei der Beckenbodendysfunktion häufig nicht nur ein Defekt vorliegt, ist es für eine umfassende Diagnostik relevant, das gesamte Becken zu beurteilen. Neben der klinischen Untersuchung und den in jeder Fachdisziplin verfügbaren bildgebenden Untersuchungsmodalitäten kommen die dynamische MRT sowie die MR-Defäkografie immer häufiger zum Einsatz, da sie ohne Strahlenexposition, überlagerungsfrei und mit einem exzellenten Weichteilkontrast das Becken reproduzierbar in seiner Gesamtheit abbilden. Die Radiologie kann mit der dynamischen MRT relevante Zusatzinformationen zur effizienten Therapieplanung geben und schlägt damit eine Brücke zwischen den einzelnen Fachbereichen – ohne diese in Frage zu stellen. Diese Erfahrung macht jedenfalls Dr. Céline Alt, Assistenzärztin in der Sektion Urogenitale Bildgebung (Sektionsleitung: Prof. P. Hallscheidt) der Abteilung für Diagnostische und Interventionelle Radiologie an der Universität Heidelberg.

Die Patienten profitieren sehr von dieser Zusammenarbeit, da Rezidiveingriffe minimiert werden können

Céline Alt

Seit Dr. Alt vor fünf Jahren damit begann, gynäkologische Patientinnen mit symptomatischem Beckenorganprolaps im Rahmen einer Studie prä- und postoperativ zu untersuchen, hat sich ihre Expertise auf diesem Gebiet unter den Kollegen herumgesprochen. „Durch unsere Erfahrungen, die wir über die Jahre gesammelt haben, sind nun sowohl die Urologen als auch die Proktologen auf uns aufmerksam geworden. Inzwischen bekomme ich auch von externen Kollegen Anfragen, ob ich in diesem oder jenem Fall eine dynamische MRT bzw. eine MR-Defäkografie für sinnvoll halte“, erklärt Dr. Alt. Die Zusammenarbeit mit den Gynäkologen und Viszeralchirurgen ist an der Universität Heidelberg bei diesem Patientenkollektiv sehr eng und die Möglichkeit, interdisziplinär ein individuelles Therapiekonzept zu erarbeiten, wird gerne angenommen. „Die Patienten profitieren sehr von dieser Zusammenarbeit, da sie dadurch eine von allen Seiten beleuchtete und damit individualisierte Therapieplanung erhalten und Rezidiveingriffe dadurch minimiert werden können“, erläutert die Assistenzärztin. Das war nicht immer so; anfänglich stieß sie mit ihren Untersuchungen bei den Kollegen anderer Fachbereiche auf Ressentiments. Inzwischen fühlt sich keiner mehr in seinem Fach beschnitten, weil die Radiologie wertvolle additive Informationen gibt. „Denn wir wollen ja nicht ‚anstelle von‘, sondern wir wollen ‚zusätzlich‘.“

Bei der dynamischen MRT des Beckenbodens werden sowohl morphologische hochaufgelöste Sequenzen als auch funktionelle, dynamische Sequenzen unter Durchführung des Valsalva-Manövers gemacht. Bei Frauen wird ein steriles Ultraschallgel in die Scheide gegeben. Sofern Stuhlentleerungsstörungen vorliegen, wird zusätzlich auch der Enddarm mit Ultraschallgel gefüllt, das dann in der Untersuchung aktiv von den Patienten ausgeschieden werden muss. „Durch die Presssequenzen können wir beurteilen, welche Organe aktiv oder passiv tiefer treten und wie die Beziehung der Beckenorgane zueinander während des Pressvorganges ist“, schildert Dr. Alt den Untersuchungsablauf. Zusätzlich kann durch die Darstellung des aktiven Pressvorganges die Patientencompliance überprüft werden, um die sichtbaren Ergebnisse richtig einordnen zu können.

Neben den dynamischen Sequenzen zur Diagnostik haben aber auch die morphologischen Sequenzen ihren Stellenwert

Céline Alt

Die Compliance des Patienten ist für die erfolgreiche Durchführung der dynamischen MRT bzw. der MR-Defäkografie essenziell. Neben der ausführlichen Erläuterung der korrekten Durchführung des Valsalva-Manövers werden in Heidelberg die Patienten mit angehobenen Beinen und auseinandergeklappten Knien im MRT positioniert, so dass ein besserer Druckaufbau auf den Beckenboden bzw. eine durch die Lagerung erleichterte Ausscheidung des rektal applizierten Ultraschallgels möglich ist. Quantitativ erfasst wird die Beckenbodendysfunktion durch Ausmessen des Abstandes definierter Referenzpunkte zu festgelegten Referenzlinien bzw. spezieller Winkel in Ruhe, beim Kneifen und unter maximaler Beckenbodenpresse. Im Gegensatz zur konventionellen Defäkografie, bei der der Patient im Untersuchungsraum auf einem improvisierten Toilettenstuhl vor der Röntgenröhre sitzt und das medizinisches Personal als „Zuschauer“ um sich herum hat, ist er im MRT alleine, also mehr für sich, so dass sein Schamgefühl minimiert wird.
„Neben den dynamischen Sequenzen zur Diagnostik haben aber auch die morphologischen Sequenzen ihren Stellenwert. So können wir beispielsweise von zwei Patientinnen berichten, die zur präoperativen Bildgebung im MRT waren, bei denen auf den morphologischen Bildern ein Karzinomverdacht gestellt wurde, einmal am Blasenausgang und einmal am Blasenostium. Abhängig vom Füllungsstand der Blase können diese Tumoren sonografisch unentdeckt bleiben, im MRT waren diese Raumforderungen auch bei nur mäßig gefüllter Blase detektierbar, so dass diese Patientinnen zur Urologie weitergeschickt wurden. Der Karzinomverdacht bestätigte sich“, stellt Dr. Alt fest.

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Dr. Céline Alt

Bei den im Rahmen der Studie untersuchten Patientinnen hofft Dr. Céline Alt, bald auch langfristig Prognosen hinsichtlich des therapeutischen Outcome bzw. der Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs abgeben zu können. Für die Prognose werden die Patienten präoperativ, kurzfristig zwölf Wochen postoperativ, mittelfristig nach einem Jahr und langfristig nach fünf Jahren mit dem gleichen Protokoll untersucht. Die Langzeitstudien sind eine Herausforderung, weil die Patienten sich subjektiv gut fühlen und erst überzeugt werden müssen, sich auch ohne Beschwerden erneut in den MRT zu legen. „Obwohl das subjektive Empfinden der Patienten natürlich das Wichtigste ist, hoffen wir doch, dass möglichst viele Patientinnen die Untersuchung wahrnehmen, damit wir anhand der Daten eruieren können, ob mit Hilfe der dynamischen MRT-Untersuchung ‚versteckte‘ Defekte diagnostiziert werden können, die durch die Untersuchungsmethoden anderer Funktionsbereiche nicht erfasst wurden, oder ob wir frühzeitig Hinweise zum Beispiel für Rezidive erkennen können.“


Profil:

Dr. Céline Alt absolvierte das Studium der Humanmedizin an der Universität Heidelberg und erhielt 2006 ihre Approbation. Zeitgleich schloss sie ihre Promotion mit „magna cum laude“ ab. Seit November 2006 ist sie Assistenzärztin in der Abteilung für Diagnostische und Interventionelle Radiologie am Universitätsklinikum Heidelberg.

Die 32-jährige ist seit letztem Jahr auch Prüfärztin für Onkologie und hat ihre Forschungsschwerpunkte in der MR-Diagnostik gynäkologischer Beckentumore und im dynamischen MRT bei Beckenbodendysfunktion.


 

10.05.2012

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