Vernetzung

„Veränderung ist wesentliche Herausforderung für dauerhafte Interoperabilität“

Der Begriff ‚Interoperabilität‘ ist derzeit in aller Munde. Doch was genau versteht man darunter? Welche Bedeutung hat diese für das Gesundheitssystem und welche Gefahren birgt fehlende Interoperabilität? Dies beantwortet Andreas Grode, Abteilungsleiter Innovation bei der gematik Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH, im Interview.

Interview: Sascha Keutel

Andreas Grode, Abteilungsleiter Innovation bei der gematik Gesellschaft für...
Andreas Grode, Abteilungsleiter Innovation bei der gematik Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH.
Quelle: gematik Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH.

Herr Grode, was verstehen Sie unter ‚Interoperabilität‘?  

Unter Interoperabilität verstehe ich die Zusammenarbeit von unterschiedlichen technischen Systemen und deren Datenaustausch untereinander. Sichergestellt wird dabei, dass die Daten nicht nur übertragen, sondern auch eindeutig so vom Empfänger verstanden werden, wie sie der jeweilige Absender gemeint hat.

Das klingt ja erst einmal ganz einfach …

Erst einmal ja, da gebe ich Ihnen recht. Es ist aber in der Praxis trotz aller Standardisierung, der wir uns erfreuen, nicht bei allen elektronischen Systemen gegeben. Denn tauschen Systeme Daten bzw. Informationen aus, müssen sowohl die eigentlichen Informationen als auch die Metadaten bzw. beschreibenden Daten interoperabel übertragen werden. Das setzt voraus, dass sie einem zuvor vereinbarten Format entsprechen. Das ermöglicht schließlich, die Informationen nicht nur zu übertragen, sondern auch richtig zu verstehen, auch wenn die beteiligten Systeme selbst völlig unterschiedlich sind. Ein Mangel oder auch die Vielfalt von Formaten der Datenübertragung sind dabei eine Herausforderung, schließlich muss man sich im Vorfeld auf die zu verwendenden Schnittstellen und zu übertragenden Inhalte einigen, was gerade beim Übergang von Sektor- oder Länder-Grenzen aufwendig ist.

Welche Bedeutung hat das nun für das Gesundheitswesen?

Stellen Sie sich vor, Ihre Behandlung bei einem Arzt ihrer Wahl erfolgt auf der Basis Ihrer in einem technischen System gespeicherten Daten. Sind beim Datenaustausch der Informationen zwei technische Systeme nicht interoperabel oder wurden Daten nicht interoperabel übertragen, entstehen Fehler, die durchaus für Sie zu einer Gefahr werden könnten. Das betrifft Informationen zu möglichen chronischen Erkrankungen, die medizinische Behandlung auf Grund eines Befundes oder auch wichtige Details zur Medikation (z. B. Wirkstoff, Einnahme, Dosierung). Als Patient vertraue ich meinem Arzt, dass die über mich gespeicherten medizinischen Daten stimmen, auch wenn sie z. B. bei einer Blutuntersuchung von Dritten im Labor bereitgestellt werden.

Also ist Interoperabilität im Gesundheitswesen eine wichtige Voraussetzung …

… auf jeden Fall. Im medizinischen Umfeld geht es immer um wichtige Details, z. B. einen Blutwert oder einen Befund, für dessen rein technische Übertragung Interoperabilität eine wichtige Voraussetzung für eine adäquate medizinische Versorgung des Patienten ist. Aber nicht nur das. Interoperabilität im Gesundheitswesen hat noch weitere Ebenen. Neben der technischen und korrekten Übertragung der Informationen und deren Bedeutung (Semantik) ist natürlich auch die Zuordnung der Informationen zur jeweiligen Person wichtig. Es geht dabei um die eindeutige Identifizierung eines Patienten und der richtigen Zuordnung seiner Daten, aber auch um die wichtige Information, ob auch andere an der Kommunikation beteiligten Akteure wirklich authentisch sind und somit z. B. übermittelte Informationen vom richtigen Absender stammen.

Betrifft Interoperabilität eigentlich das komplette medizinische Umfeld?

Ja, im Sinne der Interoperabilität ist das Umfeld auch eine Ebene, die organisatorische Interoperabilität. Dabei geht es um die Prozesse der an der Kommunikation Beteiligten, die diese Daten erheben und verarbeiten sowie deren Echtheit unbestreitbar bestätigen müssen, wie z. B. mit einer interoperablen digitalen Signatur. Diese Interoperabilität von Rollen und Organisationen scheint auf den ersten Blick keine große Herausforderung zu sein. Doch spätestens im internationalen Kontext, wo Sprachen, Rollen und Prozesse sich oft zum Teil erheblich von unserem alltäglichen System unterscheiden, ist Interoperabilität nach wie vor eine Herausforderung.

Denken Sie da auch an europäische, interoperative Projekte? Hier dürften doch besondere Anforderungen bestehen, da jedes Land ein anderes Gesundheitssystem hat.

In der Tat. EU-Projekte, die diese verschiedenen Ebenen der Interoperabilität adressieren, waren und sind deshalb auch schwierig umzusetzen. Denn jedes Land ist in seinem Gesundheitssystem autonom. Zudem gibt es sehr unterschiedliche gesetzliche Regelungen zur Gesundheitsversorgung, deren Finanzierung und einzelne Prozesse, die natürlich nicht einfach so angepasst werden können und dürfen. Also muss Interoperabilität zwischen den nationalen technischen Systemen auch im jeweiligen gesetzlichen und rechtlichen Zusammenhang betrachtet werden.

Gibt es denn bereits EU-Projekte zur Interoperabilität? Können Sie uns einige nennen?

Es gibt sicherlich hunderte Projekte zur Interoperabilität in allen denkbaren Sektoren. Im Gesundheitsbereich versuchen wir bei der gematik die für uns wichtigen Entwicklungen zu beobachten oder sogar in begrenztem Maße an wichtigen Projekten mitzuarbeiten. Beschränken müssen wir uns hierbei auf solche Projekte, die in erster Linie mit dem Aufbau der Telematikinfrastruktur zu tun haben.

Vieles, was heute diskutiert wird, hat mit dem Projekt „epSOS“ (European Patients Smart Open Services) begonnen, das mit sechs Jahren Laufzeit bis 2014 mit Teilnehmern aus 25 Ländern den grenzüberschreitenden Datenaustausch für im Wesentlichen zwei Anwendungsfälle „ePrescription“ (eRezept) und „Patient Summary“ (Patientenkurzakte) definiert und erprobt hat. Grundlage ist die Anforderung, dass im Falle eines spontan notwendigen Arztbesuches im Ausland wichtige medizinische Daten aus dem Heimatland vorliegen oder ein E-Rezept für ein Medikament grenzüberschreitend dispensiert werden kann. Nach Ende des Projekts wollten einige Länder aber die geschaffenen Strukturen und Vereinbarungen weiter nutzen, was aber nach dem Auslaufen der Fördermittel und unklaren rechtlichen Regelungen nicht unmittelbar möglich war. Das Projekt EXPAND wurde gestartet, um Arbeitsergebnisse von epSOS und anderen ähnlichen Projekten für die weitere dauerhafte Verwendung zu sammeln, zu dokumentieren, und als Bausteinen für die spätere Verwendung in dauerhaften Anwendungen aufzubereiten. Für einige noch offen gebliebene Fragen zu verschiedenen Aspekten der Interoperabilität gab bzw. gibt es noch rund ein Dutzend weiterer EU-Projekte, wie z. B. „eStandards“, „OpenMedicine“, „AssessCT“, deren Darstellung aber hier den Rahmen sprengen würde.

Haben die Ergebnisse aus den EU-Projekten auch Auswirkungen auf Deutschland?

Deutschland ist eine der drei großen europäischen Nationen, sodass Auswirkungen bedingt durch höheren Anpassungsaufwand oder komplexere nationale Gesundheitssysteme meist mit größerer Verzögerung sichtbar werden. Projekte haben zudem die Eigenschaft, ein Ende zu haben, auch im finanziellen Sinne. Somit sind die Auswirkungen von EU-Projekten, selbst solche großen „Large-Scale-Pilot“-Projekte wie epSOS, überschaubar, solange in den betroffenen Ländern keine dauerhafte Regelung zur Finanzierung und zum rechtlichen Rahmen existiert, was gerade allerdings in vielen Förderprojekten übersehen oder unterschätzt wird. Ein Projekt, das den Datenaustausch in der Gesundheitsversorgung als technisch machbar anzeigt, bedeutet nicht gleichzeitig, dass es auch in Bezug auf Sicherheit (Vertraulichkeit, Eindeutigkeit, Authentizität), Finanzierung und rechtlich-gesetzliche Grundlagen interoperabel ist. Gleichwohl sind Ergebnisse aus EU-Projekten in anderen europäischen Ländern eine Grundlage, eigene Prozesse zu optimieren und Grundlagen zum Datenaustausch z. B. zum Nachbarland zu etablieren, um in der Gesundheitsversorgung zusammen besser zu werden. Das machen z. B. die skandinavischen Länder schon recht lange.

Mal einen Schritt weiter gedacht: Könnten die EU-Projekte eines Tages auch zu einer gemeinsamen europäischen Gesundheitsinfrastruktur führen?

Möglich ist vieles. Ein derzeit absehbarer Effekt, der von den „aktiven“ EU- Mitgliedsstaaten ausgelöst wird, ist der Aufbau einer europäischen E-Health-Infrastruktur. Diese soll auf dem aufbauen, was die Staaten selbst bereitstellen, es soll für wichtige Anwendungen, beginnend mit „Patient Summary“ und „ePrescription“, einheitliche Schnittstellen geben, über die sich die jeweiligen nationalen E-Health-Infrastrukturen miteinander verbinden, über so genannte „National Contact Points“ zu einer „eHealth Digital Service Infrastructure“ (eHDSI). Die EU-Kommission hat jetzt dafür Fördermittel ausgeschrieben, um den Aufbau der erforderlichen technischen Systeme zu beschleunigen und organisatorische Anpassungen anzuschieben. Dieses CEF-Förderprogramm könnte damit indirekt auch auf Deutschland und auf die Telematikinfrastruktur Auswirkungen haben. Deshalb zeigt auch Deutschland hier Flagge und beteiligt sich an diesem Förderprogramm und den Abstimmungen zur Schaffung dieser interoperablen Vernetzung von nationalen E-Health-Netzwerken in Europa. Allerdings gibt es keine direkte gesetzliche Anforderung, die Telematikinfrastruktur an eine europäische Infrastruktur anzuschließen.

Dennoch ist es wichtig, bei den Diskussionen und Festlegungen zur Interoperabilität aktiv dabei zu sein, um später nicht notgedrungen schlechte Kompromisse eingehen zu müssen.

Kommen wir zum Thema Datensicherheit. Sind die medizinischen Daten in EU-Projekten nicht besonders gefährdet und anfällig für einen möglichen Datenklau? Die Vergangenheit hat uns einiges gelehrt.

Deutschland, vertreten durch die gematik hat bei seiner Teilnahme an europäischen Projekten im Telematik-Umfeld immer sehr den Standpunkt für Sicherheit in der Datenübertragung und im Umgang mit medizinischen Daten vertreten. Einige Länder haben niedrigere Ansprüche oder einfach nur eine andere Interpretation, wann Sicherheit „hoch“ oder „hoch genug“ ist. Allerdings braucht es in Zukunft jedoch mehr als nur Lippenbekenntnisse, um praktikabel und interoperabel und „sicher“ zu sein. Der grenzüberschreitende Datenaustausch darf aus unserer Sicht nicht unsicherer sein als der nationale, das ist machbar. Für einen dauerhaften Betrieb müssen noch einige weitere Hürden, z. B. zur dauerhaften Finanzierung auch von (sicherheits-)technisch notwendigen Anpassungen überwunden werden, wenn man mit dem Ende von EU-Förderungsmaßnahmen oder technischem Anpassungsbedarf nicht immer wieder von vorne anfangen muss.

Welche großen vernetzten Systeme sehen Sie künftig im Fokus? Und wo müssten wir in Europa noch aktiver werden, um einer zeitgemäßen technischen Entwicklung für die Zukunft gerecht zu werden?

Ich denke, es fehlt in Europa noch an einer geeigneten „Kultur“, große Netze wie nationale Gesundheitsnetze so zu betreiben, dass auch eine technische Weiterentwicklung vernünftig möglich ist. Aus Sicht der Telematikinfrastruktur bedeutet das, dass Veränderungen an den am Datenaustausch beteiligten Systemen oder auch neue Techniken nicht an bereits laufenden Systemen getestet werden. Die schönste „neue“ Funktion nützt nichts, wenn damit bereits bestehende Funktionen behindert werden. Auch das ist ein Aspekt der Interoperabilität. In diesem Zusammenhang hatten wir vor einiger Zeit angeregt, dass es neben der europaweiten E-Health-Infrastruktur auch eine Art Test-Erprobungs-Innovationsstruktur geben sollte, an dem ohne Risiko Veränderungen an technischen Systemen erprobt werden können. Einige nationale Infrastrukturen in Europa sind da schon ganz gut aufgestellt, andere weniger. Gleichwohl werden wir mit unseren Systemen immer technischen Veränderungen unterworfen sein. Schauen Sie sich allein die technischen Systeme an, die wir täglich mit uns herumtragen. Sieht man von der „Technikverliebtheit“ einiger Produkte einmal ab, bieten sich hier doch viele Möglichkeiten zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung, die allesamt zumindest eines gemeinsam haben: Kommunizierende Systeme, die sich laufend weiterentwickeln. Veränderung ist die wesentliche Herausforderung für dauerhafte Interoperabilität.


PROFIL:
Andreas Grode ist seit 2006 bei der gematik Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH in Berlin tätig, seit 2007 als Abteilungsleiter Innovation. Als Experte für Normen und Standardisierungsprozesse wirkt er in verschiedenen Gremien auf nationaler und europäischer Ebene mit, u. a. im DIN-Normenausschuss Medizin, im Vorstand von EHTEL (European Health Telematics Assoziation), darin als Vorsitzender der nationalen Telematik-Kompetenzzentren.

10.11.2016

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